Ein neuer Blick auf Trauma – und warum der Körper der Schlüssel zur Heilung sein kann
Traumatherapie erlebt in den letzten Jahren einen Paradigmenwechsel. Während klassische Ansätze lange Zeit vor allem auf das Gespräch, die Erinnerung oder kognitive Umstrukturierung setzten, richtet sich der Fokus nun vermehrt auf den Körper – auf das, was er erinnert, ausdrückt und festhält. Somatic Experiencing (SE), ein körperorientierter Ansatz zur Traumabewältigung, gilt als einer der Vorreiter dieser Bewegung – und erfährt aktuell wachsende Aufmerksamkeit in der therapeutischen Landschaft.
Die Sprache des Körpers verstehen
Entwickelt wurde Somatic Experiencing von dem US-amerikanischen Biophysiker und Psychologen Dr. Peter Levine. Seine zentrale Beobachtung: Tiere in der Wildnis erleben ständig lebensbedrohliche Situationen – und doch entwickeln sie in der Regel keine Traumata. Der Grund liegt laut Levine in ihrer Fähigkeit, die aufgestaute Überlebensenergie nach dem Ereignis durch Zittern, Fluchtbewegungen oder andere körperliche Reaktionen wieder abzubauen. Menschen hingegen neigen dazu, solche Impulse zu unterdrücken – oft aus sozialer Konditionierung oder innerer Erstarrung heraus.
Somatic Experiencing setzt genau hier an: Nicht das belastende Ereignis selbst traumatisiert, so Levine, sondern die im Nervensystem gebundene Energie, die nicht entladen werden konnte. Die Methode zielt darauf ab, diesen „eingefrorenen“ Stress Schritt für Schritt wieder in Bewegung zu bringen – behutsam, achtsam und ohne das Trauma erneut durchleben zu müssen.
Sanfte Schritte statt Re-Traumatisierung
Im Zentrum der SE-Arbeit steht die sogenannte Titration – also das langsame, dosierte Annähern an belastende Körperempfindungen oder Erinnerungsfragmente. Der Fokus liegt weniger auf dem „Was“ (dem Inhalt), sondern auf dem „Wie“ (dem körperlichen Erleben). Der Klient wird eingeladen, seinen inneren Empfindungen zuzuhören: Wo spüre ich Spannung, Hitze, Kälte, Druck? Was passiert in meinem Brustkorb, meinem Bauch, meinen Händen?
Ziel ist es, das autonome Nervensystem wieder in einen Zustand von Sicherheit und Regulation zu führen. Die therapeutische Beziehung, ein Gefühl von Kontrolle und die Betonung von Ressourcen sind zentrale Bestandteile des Prozesses.
Ein Ansatz mit vielen Anwendungsfeldern
Somatic Experiencing wird mittlerweile weltweit in verschiedenen Kontexten eingesetzt: von der Arbeit mit Kriegsveteranen über die Behandlung chronischer Schmerzen, psychosomatischer Beschwerden bis hin zur Unterstützung nach Unfällen, Operationen oder frühen Bindungstraumata.
Gerade Menschen, die sich in klassischen Therapien „im Kopf verlieren“, wenig Zugang zu ihren Emotionen finden oder von Flashbacks und Körpersymptomen geplagt sind, profitieren oft stark von der körperzentrierten Herangehensweise. SE bietet ihnen eine Möglichkeit, wieder in Kontakt mit ihrem Körper zu kommen – nicht als Feind oder Angstauslöser, sondern als Ressource und Verbündeten.
Kritische Stimmen und wissenschaftliche Lage
Obwohl SE in der Praxis beeindruckende Erfolge zeigt und viele Therapeuten auf den Ansatz schwören, gibt es auch kritische Stimmen. Die empirische Studienlage ist – verglichen mit etablierten Verfahren wie EMDR oder kognitiver Verhaltenstherapie – noch ausbaufähig. Dennoch wachsen die Forschung und das Interesse: Neurowissenschaftliche Erkenntnisse zur Polyvagaltheorie, zur Embodiment-Forschung und zur Rolle des autonomen Nervensystems in der Traumaheilung stützen die Grundannahmen von SE zunehmend.
Heilung durch Zuhören – aber mit dem Körper
Somatic Experiencing steht exemplarisch für ein neues therapeutisches Zeitalter: eines, in dem nicht nur die Geschichte eines Traumas zählt, sondern vor allem die Art, wie sie sich im Körper eingeschrieben hat. In einer Welt, in der viele Menschen sich von sich selbst entfremdet fühlen, bietet SE die Möglichkeit, über das Spüren zur Selbstregulation zurückzufinden – und die eigene Geschichte neu zu verhandeln. Nicht mit Worten, sondern mit dem Wissen des Körpers.