Im Alltag begegnen uns ständig Situationen, die unser Nervensystem fordern: Stress bei der Arbeit, Konflikte in Beziehungen, Reizüberflutung oder das Gefühl, ständig „funktionieren“ zu müssen. Viele Menschen leben im Dauer-Alarm – ohne zu wissen, dass es ein biologisches System gibt, das dabei eine entscheidende Rolle spielt: der Vagusnerv. Die Erkenntnisse aus der Polyvagal-Theorie bieten einen neuen, praktischen Zugang zu innerer Sicherheit, emotionaler Regulation und Selbstberuhigung – mitten im Alltag.
Was ist die Polyvagal-Theorie?
Die vom Neurowissenschaftler Stephen Porges entwickelte Polyvagal-Theorie beschreibt, wie unser autonomes Nervensystem auf Sicherheit oder Bedrohung reagiert. Sie unterscheidet drei Hauptzustände:
- Soziale Verbundenheit (ventraler Vagus) – wir fühlen uns sicher, präsent, offen
- Kampf/Flucht (sympathisches Nervensystem) – wir sind angespannt, gestresst, in Aktion
- Erstarrung (dorsaler Vagus) – wir ziehen uns zurück, sind emotional abgeschaltet oder fühlen uns wie betäubt
Ziel ist nicht, „immer entspannt“ zu sein, sondern flexibel zwischen den Zuständen wechseln zu können – je nach Situation. Genau hier setzen Polyvagal-Übungen an.
Warum der Vagusnerv so wichtig ist
Der Vagusnerv ist der längste Hirnnerv und verbindet Gehirn, Herz, Lunge, Magen und Darm. Er ist zentral für unsere Selbstregulation: Wenn er aktiviert ist (insbesondere über seinen ventralen Ast), fühlt sich unser Körper sicher – auch wenn es im Außen turbulent ist.
Ein gut „trainierter“ Vagusnerv hilft uns:
- besser mit Stress umzugehen
- schneller in die Ruhe zurückzukehren
- mit anderen in Verbindung zu bleiben – auch in schwierigen Situationen
- gesünder zu schlafen, zu verdauen und zu fühlen
Alltagstaugliche Übungen zur Vagus-Aktivierung
1. Summen & Tönen
Die einfachste Art, den Vagusnerv zu aktivieren: Summen, Brummen, Singen oder langes „Om“-Tönen. Die Vibration im Kehlkopf wirkt direkt auf den Nerv – am besten täglich 3–5 Minuten.
2. Ausatmen verlängern
Ein langer, bewusster Ausatem (z. B. 4 Sekunden ein, 6–8 Sekunden aus) beruhigt das Nervensystem und signalisiert: Ich bin in Sicherheit.
3. Kiefer und Nacken entspannen
Anspannung in Kiefer oder Nacken blockiert den Vagusfluss. Leichtes Kreisen, Massieren oder bewusstes Loslassen dieser Zonen hilft sofort.
4. Kaltes Wasser im Gesicht
Ein Spritzer kaltes Wasser (oder eine kalte Kompresse auf Stirn oder Augen) aktiviert den Tauchreflex – und über ihn den Vagusnerv. Ideal bei akuter Unruhe.
5. Schmetterlingsgriff (nach Peter Levine)
Die Hände über Kreuz auf die Brust legen, sodass die Fingerspitzen die Schlüsselbeine berühren, und sanft im Wechsel auf jede Seite klopfen. Diese bilaterale Stimulation beruhigt bei Angst, Nervosität oder Überforderung.
6. Vagus-Schaukel
Langsames, rhythmisches Wiegen des Körpers (im Sitzen oder Stehen) vermittelt dem Nervensystem ein Gefühl von Sicherheit – wie bei einem Baby im Arm.
7. Soziale Mikroverbindungen
Blickkontakt, ein echtes Lächeln, ein herzlicher Händedruck oder ein bewusstes Gespräch – all das aktiviert den ventralen Vagus, weil wir uns verbunden fühlen. Schon eine kleine Geste genügt.
8. Summen im Auto, beim Kochen, unter der Dusche
Nutze Alltagssituationen, um dein Nervensystem liebevoll mit kleinen Impulsen zu regulieren – ohne Extra-Zeitaufwand.
Die Polyvagal-Theorie zeigt: Heilung beginnt nicht nur im Kopf, sondern im Nervensystem. Wenn wir lernen, unseren Vagusnerv bewusst zu unterstützen, gewinnen wir Zugang zu mehr Gelassenheit, Verbindung und innerer Stabilität. Die Übungen sind einfach – aber ihre Wirkung ist tief.
Denn je sicherer sich unser Körper fühlt, desto freier können wir denken, fühlen und handeln. Und genau das brauchen wir im modernen Alltag: keine ständige Kontrolle, sondern ein tiefes Gefühl von Sicherheit – in uns selbst.